Margeritenjahre by Eva-Maria Bast

Margeritenjahre by Eva-Maria Bast

Autor:Eva-Maria Bast
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Gmeiner-Verlag
veröffentlicht: 2020-06-09T00:00:00+00:00


Susanne spürte keinen Schmerz. Sie atmete nur tief durch und nickte der Schwester steif zu. Dann sagte sie: »Komm, Elsie, wir gehen nach draußen. Hier haben wir nichts mehr verloren.«

Hocherhobenen Hauptes schritt sie die Treppen wieder nach unten. Sie wusste, dass der Schmerz kommen und wie eine Welle über ihr zusammenbrechen würde. So war es immer. Aber eine kleine Schonfrist würde sie haben. Und die musste sie nutzen, um von hier fort und an einen Ort zu kommen, an dem sie einigermaßen geschützt und in Sicherheit war, wenn es losging.

Doch vor der Eingangstür war kein Durchkommen. Die Menschenmasse, die sich hier versammelt hatte, war unüberschaubar. Krankenwagen, Polizei, Kameras und Journalisten drängten sich vor dem Klinikum.

»Was ist denn hier los?«, rief Elsie, die ihrer paralysierten Freundin entsetzt gefolgt war.

»Sie haben auf Doktor Martin Luther King geschossen«, erzählte eine aufgeregte Frau. »Er wird gerade in die Notaufnahme gebracht.«

»Großer Gott«, stieß Elsie hervor, und Susanne sah, dass die Knie der Freundin nachgaben.

Rasch griff sie nach ihrem Ellbogen, um sie zu stützen. Paradoxerweise half es ihr, dass Elsie Schwäche zeigte. Sonst, so vermutete sie, hätte diese schreckliche Nachricht die dünne Schutzhülle, die zwischen ihr und ihrem Schmerz lag, fortgerissen. So aber hielt sie durch. Eine von ihnen musste schließlich stark sein.

»Was genau ist passiert?«, fragte sie einen Mann in Notarztkleidung, der im Gedränge neben ihr stand und so wirkte, als kenne er sich aus.

Sie täuschte sich nicht, der Mann gab bereitwillig Auskunft.

»Sein Zustand ist kritisch«, erwiderte er. »Aber es sind jede Menge Ärzte vor Ort, bestimmt 20 oder 30. Sie versuchten eine Herzmassage. Das Problem ist nur, dass seine gesamte Muskulatur gelähmt ist und auch alle anderen Körperfunktionen setzten aus. Er hat keine Sinneswahrnehmungen mehr.«

»Haben Sie ihn also aus nächster Nähe gesehen?«

Der Mann nickte. »Ich bin Rettungssanitäter und war nahe dem Tatort. Er hatte kein Blut mehr im Körper. Es war eine sehr große Wunde. So etwas habe ich noch nicht gesehen.«

»Wo ist es passiert?«, mischte sich Elsie nun ins Gespräch.

»Auf dem Balkon vor seinem Hotelzimmer«, sagte der Mann. »Als wir ankamen, lag er auf dem Boden. Sie hatten ein weißes Tuch über seine Stirn gelegt. Aber der Teil vom Gesicht, den man noch sah, wirkte ungemein friedlich – wie bei einem schlafenden Kind.«

Susanne schlug die Hand vor den Mund.

»Die Polizei ist vor Ort und bildet einen Ring um das Lorraine Hotel. Geschossen wurde offenbar aus dem Backsteinbau gegenüber.«

»Wir haben einen Tatverdächtigen«, gellte da ein Ruf durch die Menge. »Es handelt sich um einen jungen Weißen, gut gekleidet. Er flieht in einem neuen weißen Mustang auf der Mainstreet in Richtung Norden.«

Ein Aufschrei ging durch die Menge. Er vermischte sich mit dem Lärm der Martinshörner, die zu Dutzenden durch die Stadt hallten. Drinnen kämpften rund 30 Ärzte um das Leben von Martin Luther King. Vergebens. Um 19.05 Uhr wurde er für tot erklärt.

Als die Nachricht bekannt gegeben wurde, brachen die Menschen vor dem Krankenhaus fassungslos zusammen, fielen sich Wildfremde in die Arme, um miteinander zu trauern und zu weinen. Auch Elsie ging schluchzend in die Knie, während Susanne die Freundin in ihren Armen auffing.



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